Abstract: Der folgende Text bezieht sich auf die Unterrichtsform der Sokratischen Methode, die beispielsweise in den USA sich in den Rechtswissenschaften als Lehrmethode fest etabliert hat. Der Beitrag möchte dazu anregen, diese Lehrmethode im Virtuellen stärker anzuwenden sowie Erfahrungen mit dem (vorhersehbaren) unmittelbaren Ansprechen von Studierenden ("cold call") zu machen.
Der sokratische Unterricht zeichnet sich im Gegensatz zur Vorlesung und dem Frontalunterricht dadurch aus, dass im Dialog zwischen den Gesprächspartnern fruchtbare Einsichten erzeugt werden. Der Gesprächspartner sollte nicht belehrt, sondern durch gezielte Fragestellungen zu neuen Einsichten geführt werden. Ob die Methode auf den historischen Sokrates zurückgeht oder ihm von Platon zugeschrieben wurde, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Die Idee ist demnach, dass Lehrende im Dialog mit Lernenden diese zu neuen Einsichten führen können. Im deutschen Sprachraum wird auch zuweilen von einer Hebammenkunst ("Mäeutik") im sokratischen Dialog gesprochen.
Interessant kann diese Kunst beispielsweise werden, wenn konkrete Fälle oder Situationen oder Produkte besprochen bzw. gestaltet werden sollen. Der Kursstoff wird im Zusammenspiel von Fragen der Lehrenden und Antworten der Studenten erarbeitet. Ob im Hörsaal oder auf Zoom oder mit der professionellen Software Adobe Connect wie an der DIPLOMA: die Lehrenden richten nun ihre Fragen im sokratischen Unterricht gezielt an einen bestimmten bzw. eine bestimmte Kursteilnehmer/in – unabhängig davon, ob diese Person ihre Antwortbereitschaft zum Ausdruck gebracht hat.
Die jeweils Lernenden haben sich bestenfalls im Vorfeld auf eine solche Fallbearbeitung oder Produktgestaltung vorbereitet und Ideen oder Konzepte mitgebracht. In einer exemplarischen Gesprächsführung, die auch über den jeweiligen Fall hinausreichen sollte, zeigt der Lehrende bzw. die Lehrende, welche Stolpersteine oder Fehler oder Widersprüche in dem Konzept oder dem Vorgehen der Studierenden liegen. Dies geschieht allerdings ausschließlich über Fragen und nicht über Setzungen von Wahrheiten, an denen sich dann jeweils auszurichten wäre.
Lehrende beschränken sich auf Fragen an die Studierenden etwa wie folgt:
- Was ist geschehen? - Wie ist die Ausgangssituation? - Welches Problem gibt es zu bearbeiten?
- Wie ist professionell vorzugehen? - Wie wird argumentiert? - Wie sind die Rahmenbedingungen?
- Ist die Argumentation überzeugend? Und warum (nicht)?
- Was wurde übersehen? Was kann zunächst ignoriert werden?
- Welche Hypothesen zum weiteren Vorgehen und Verlauf sind plausibel?
Durch ihre Antworten rücken nicht die Lehrenden, sondern die Lernenden selbst in den Mittelpunkt der Lehrveranstaltung. Diese Verschiebung verändert auch die Unterrichtsvorbereitung: von den Studenten wird erwartet, die für die Lehrveranstaltung relevanten Texte und Beiträge zu lesen. Das Lesepensum der Studierenden kann ansteigen - "long readings" im Sinne langer Vorlesungen oder Monologe seitens der Lehrende werden jedoch vermieden.
Der sokratische Unterricht könnte zu einer höheren konzeptuellen und kommunikativen Kompetenz der Studierenden führen. Jede studierende Person könnte zudem durch einen sogenannten "cold call", d. h. die unmittelbare Ansprache einer bestimmten Studierenden, in das Unterrichtsgeschehen hineingeholt werden. Dieses Vorgehen ist nicht ohne Kritik zu haben. Einerseits kann dadurch die Kommunikationskompetenz unter Druck gesteigert werden, allerdings sind angstbesetzte Situationen selbstverständlich zu vermeiden.
Wie kalt oder lauwarm also der "cold call" in der Lehre sich anfühlt, hängt vom Einfühlungsvermögen der Lehrenden ab. Die unmittelbare Ansprache der Studierenden ist nicht zwangsläufig mit der sokratischen Methode verbunden. Eine gemäßigte Umsetzung jedoch könnte darin bestehen, dann und wann bestimmte "Unterrichtssequenzen" anzukündigen, in denen mit dem Aufruf zum Sokratischen Dialog zu rechnen ist, um etwa gezielt die Aufmerksamkeit und Inklusion der Studierenden zu steigern. Den besten Abschluss bildet ein wertschätzendes und konstruktives Feedback durch die anwesenden Personen.
Weil die Gesprächsfähigkeit und die Redebereitschaft seitens der Studierenden unterschiedlich ausgeprägt sein kann, ist es sinnvoll, dass die Lehrenden darauf achten und dies insbesondere bei größeren Gruppen, dass alle Teilnehmerinnen ungefähr gleiche Redezeiten erhalten. Diese Achtsamkeit trägt zu einer Egalisierung des Unterrichtes bei, durchaus kein unwichtiger Effekt.
Zitiervorschlag: Wirth, Jan V. (2020). Sokrates und der "Cold Call". Blogbeitrag auf der Forschungsplattform der DIPLOMA. Auf: https://www.science.de/index.php/artikel/sokrates-und-der-cold-call-2020. Erstellt am 13.07.2020. Zugriff am XX.XX.20XX