Traditionelle Europäische Medizin

Fr., 20.11.2020 - 11:20 von , zuletzt bearbeitet am 20.11.2020 - 12:07

Prof. Dr. Udo Stern
Studiendekan BSc. Naturheilkunde & komplementäre Heilverfahren an der DIPLOMA Hochschule


Die Traditionelle Europäische Medizin (TEM) ist geprägt durch Begrifflichkeiten der Humoralpathologie, Klostermedizin, der Elemente- und Konstitutionslehren sowie den darauf basierenden Behandlungsmethoden.

Die europäische Medizingeschichte hat eine durchaus lange Tradition, die 4-Säfte Lehre Galens wurde über einen Zeitraum von zweitausend Jahren vergleichsweise stabil und durchgängig angewendet, sie hat den Anspruch den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit wahr und ernst zu nehmen.

Die TEM will als Heilkunst auf Basis der Säftelehre die individuelle Konstitution eines Menschen stärken, Dysbalancen regulieren helfen und dessen Selbstheilung aktivieren, sie ist ein weites und spannendes Feld, das zum Beispiel Aderlass, Schröpfen, die Humoralpathologie, Klostermedizin, Heilpflanzen nach der Signaturenlehre, Wasseranwendungen und Spezialmassagen alter Überlieferung nutzt und betrachtet den Menschen mit seiner ihm ureigensten Konstitution und Gedankenwelt nicht isoliert, sondern in der Zusammenschau mit Lebensumständen, aber auch im Wechselspiel mit Jahreszeit, Umwelt, Klima, und Lebensphasen. Die TEM kann und soll begleitend und unterstützend zur Schulmedizin eingesetzt werden.

Abb. 1Dabei werden die vier Urstoffe Feuer, Wasser, Luft und Erde als unvergänglich und ewig gültig für die Eigenschaft der Welt formuliert. Gesundheit entspricht nach dieser Definition einer harmonischen Verteilung der vier Säfte Blut (Luft), Schleim (Wasser), schwarze Galle (Erde) und gelbe Galle (Feuer), wobei die Ausgewogenheit der Säfte den Gesundheitszustand des Menschen bestimmt. Krankheiten entstehen durch Störungen einer Ausgewogenheit der Verteilung dieser 4-Säfte. Fehlt eines der Elemente, so kann es durch Zuführen des gegenüberliegenden Elementes ausgeglichen werden, so löscht „Wasser“ beispielsweise „Feuer“ aus. Der griechische Arzt Galenos (129 bis 199 n. Chr.) hat die 4-Säftelehre noch um das System der Seele erweitert, nach seiner Beobachtung führt eine Unausgewogenheit der „Säftemischung“ zu unterschiedlichen Temperamenten und Veränderungen.

Aus diesen „Gleichgewichtsregeln“ sind in Europa die Methoden des Schröpfens und des Aderlaß entstanden, um dem Körper „böses Blut“ zu entziehen, ebenso die Phytotherapie, Ordnungstherapie und Wasseranwendungen.
Bedeutsam war und ist der Blick auf die Gesamtsituation des Menschen, denn entscheidend für eine Behandlung war der gedankliche Ansatz über ein umfassendes Verständnis von Gesundheit. Gesunde Lebensführung, die angemessene Wahl eines Heilmittels in Einheit mit der Pflege des körperlichen und seelischen Gleichgewichts stehen somit bereits seit mehr als zwei Jahrtausenden im Mittelpunkt der traditionellen europäischen Heilkünste.

Auch wenn der Begriff der Säftelehre heute etwas antiquiert klingt, so liegt dem ein Krankheitsverstehen zugrunde, das durch die moderne Forschung der letzten Jahrzehnte sowohl physiologisch, als auch biochemisch und vor allem im Kontext der neuropsychoimmunologischen Wissenschaften seine Rechtfertigung in der Medizin erfährt.

Dies lässt sich an einem Praxisbeispiel eines Menschen mit ausgeprägter Cholerese, der erhöhten Sekretion von Gallenflüssigkeit verdeutlichen. Die Gallensekrete dienen der Ausscheidung endogener (z. B. Bilirubin, Gallensäuren, Cholesterin, Metaboliten der Steroidhormone) und exogener (Medikamente, Nahrungsbestandteile) Substanzen, sowie Verdauungsprozessen.

Nach der 4-Säftelehre wird der Mensch mit gestörtem Gallenfluß in der Frühphase des Krankheitsgeschehens zum „Choleriker“. Typisch für den Choleriker sind Oberbauchbeschwerden, mit Blähungen, viszeralen Schmerzen und Krämpfen verbunden mit subjektiv schlechtem Allgemeinbefinden. Die mangelnde „Entgiftung“ über verringerten Stuhlgang machen schnell reizbar, oft verbalisiert durch die Metapher „mir ist eine Laus über die Leber gelaufen“.
Die Folge sind zunehmende abdominale Spasmen, verbunden mit reflektorischen Zwerchfellaktionen, -die zu lokal begrenzter Muskelverhärtung in der Skelettmuskulatur -primär im Rectus abdominalis- und einer verstärkten Atemaktivität, führen. So vermindert sich bei dem Choleriker die Rumpfstabilität und erschwert physiologisch den Einsatz seiner Oberschenkelmuskulatur, begleitet von Rücken –und Knieschmerzen. Die cholerische Stimmungslage aus Frustration und Ärger, verbunden mit Reizbarkeit und Schmerzen, fluktuiert in Unsicherheit und Angst. Aus der cholerischen Stimmung wird zunehmend eine Melancholie mit lähmender Depression, verbunden mit Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Kräftemangel und Müdigkeit. Wir sprechen dann neuzeitlich von „Burn-out“.

Basal für das Verständnis komplexer Verknüpfung von Ursache, Wirkung und Interaktionen sind dabei unsere ordnungstherapeutischen Beobachtungen.
Welche Belastungen oder auslösende Faktoren haben auf das System Gallenfluss mit der Folge funktioneller Gallenwegerkrankungen eingewirkt, dies müssen Anamnese und körperliche Untersuchung, ggfls. bildgebende Verfahren aufdecken.

So wie sich der Kreis bei dem cholerischen Patienten schließt, ist es bedeutsam und wichtig zu wissen, dass der Ausgangspunkt für unsere Interventionen nicht nur die Krankheit selbst, sondern die Ressourcen für Gesundheit sind die Patient oder Patientin mitbringen. Der Naturheilkunde und Komplementärmedizin geht es um den langfristigen Verlauf, mit der Prämisse so viel Intervention wie nötig, aber so wenig wie möglich. Mit dem therapeutischen Ziel Selbstheilungsprozesse zu aktivieren und zu stärken; methodisch durch Heilfasten, Phytotherapie, Schröpfen, Wasseranwendungen oder andere Methoden, die eine gesundheitsfördernde Lebensweise in den Bereichen der Ernährung, Bewegung, Unterstützung und Pflege des psychischen und seelischen Gleichgewichts im Kontext zur Lebenswelt umfassen.

Die TEM basiert ihrem Selbstverständnis primär auf dem durch die Praxis erlernten und tradierten Wissen der Volksmedizin und den komplementärmedizinischen Methoden als integraler Bestandteil der Heilkunst. Erfahrungsheilkunde ist in der modernen Medizin ihrer eigentlichen Bestimmung nach eine anwendungsorientierte Wissenschaft, auf dem Fundament eines gesunderhaltenden Lebensstils, mit dem zentralen Grundanliegen an unsere Profession „Leben zu erhalten und Leben zu fördern“ (A. Schweitzer).

Im Studiengang BSc. Naturheilkunde und komplementäre Heilverfahren haben wir die Erwartung akademisches Wissen in wesentlichen Grundlagenfächern wie Medizin, Statistik, sowie wissenschaftliche Methodenkompetenzen in Verbindung mit Biomedizin und traditionellen Heilverfahren auf Evidenzbasis zu vermitteln. Dabei erhalten unsere Studierenden tiefe Einblicke in die inhaltlichen, fachlich-methodischen und angewandt-praktischen Bereiche unterschiedlicher naturmedizinischer Heilverfahren.

 

 

NATURA Magazin, Ausgabe 25Dieser Beitrag ist erschienen im Magazin NATURA, Ausgabe 25, das Sie hier herunterladen können: 

https://natura-akademie.de/magazin/

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