Abstract: Gesprächsführung, Beratung und Therapie, die auf Entwicklung und Anpassung ganzheitlich biopsychosozialer System-Konstellationen abzielen, sollte die sozialen Effekte auf den Körper explizit mit in die psychosoziale Kommunikation holen.
Die medizinische und politische Berichterstattung zur Pandemie hat den Begriff des „Social Distancing“ (vgl. Drum 2020) kreiert. „Soziale Distanzierung“ im üblichen Sinne kann jedoch nicht gemeint sein, wenn es lediglich um Körper und Leiber geht. Das Wirtschaftslexikon Gabler spricht zu Recht synonym vom Physical Distancing. Gemeint soll damit sein, dass Leute körperlichen Abstand zueinander einhalten, um die Ausbreitung der Pandemie zu verhindern oder zu verlangsamen.
Für alleinstehende / -lebende Menschen kann "Physical Distancing" nicht nur die Exklusion verstärken, sondern sogar die totale Exklusion bedeuten. Hatten sie vor der Pandemie bereits ein sehr kleines soziales Netzwerk oder sogar nur noch ein oder zwei Kontaktpersonen, entfallen nunmehr sogar diese. Einsamkeit, der Verlust an Lebensfreude und Energie, der Wegfall von festen Gewohnheiten, der allmähliche Verlust an Fähigkeiten, ja sogar körperlich empfundene Schmerzen (siehe unten) können die Folgen sein, die schließlich in eine Beschädigung der Identität einmünden können, wobei der eigene Tod den „worst case“ dieser Beschädigung darstellt.
Hier ist ein Brückenschlag zur Diskussion um Exklusion und ihre Folgen nicht nur möglich, sondern nötig. Der soziologische Begriff der Exklusion bezeichnet Ereignisse oder Strukturen, die Ausschluss bzw. Ausgrenzung darstellen oder zu ihr beitragen. Klassische Figuren der Exklusion sind beispielsweise im Mittelalter sogenannte für „vogelfrei“ erklärte Individuen, in der Moderne Juden (durch den deutschen Nationalsozialismus und seinen völkischen Rassismus), in der Postmoderne etwa die Menschen ohne Papiere, d. h geflohene Personen ohne jedwede Personaldokumente und Ansprüche auf formale Hilfe und Unterstützung, in Zeiten von Covid-19: alleinstehend Lebende.
Systemtheoretisch referiert der Begriff der Exklusion unter anderem zusätzlich auf den Sachverhalt, dass soziale Systeme ausschließlich als Kommunikationen bestehen. Demnach können Menschen bzw. Individuen (je nach Begriff) nicht Teil sozialer Systeme sein. Sie können und müssen sich zwar an Interaktion und Kommunikation beteiligen, um nicht im Verlauf der Lebensführung exkludiert zu werden. Die Operationen in den jeweiligen Systemen, d. h. in den sozialen, psychischen und biologischen Systemen, laufen jedoch jeweils getrennt voneinander ab und können sich lediglich über Medien irritieren bzw. verstören. Das Medium zwischen sozialen und psychischen Systemen bildet Sprache. Als Medium zwischen psychischen und biologischen Systemen fungieren Gefühle.
Der Verzicht der Kommunikation auf körperliche Anwesenheit / Kontakte bleibt sicher nicht folgenlos.* Dies trifft für Personen mit geringer Ausstattung an Mitteln und Ressourcen insbesondere zu. Identitätssichernde Kompetenzen und Fähigkeiten zur Verwirklichung von Lebensführung nehmen in sozialen Prozessen (der Normalinklusion) in der Regel zu. Diese sozialen, über Körperkontakte vermittelten Ressourcen stehen in Zeiten weitestgehender physischer Distanzierung nicht zur Verfügung.
Naomi Eisenberger, Matthew D. Liebermann und Kipling D. Williams haben im Jahre 2003 eine schon zu damaligen Zeiten spektakuläre und tausendfach zitierte Studie angestellt (im Anhang). Mithilfe von bildgebenden Verfahren konnten sie nachweisen, dass die Wahrnehmung des psychologischen Schmerzes aufgrund von sozialer Exklusion auf einer ähnlichen neuroanatomischen Basis im Gehirn beruht wie die Wahrnehmung des körperlichen Schmerzes.
In summary, a pattern of activations very similar to those found in studies of physical pain emerged during social exclusion, providing evidence that the experience and regulation of social and physical pain share a common neuroanatomical basis.
Seelischer Schmerz aufgrund von Exklusion ist demnach genauso wirklich wie körperlicher Schmerz, hervorgerufen durch eine heiße Herdplatte. Diese Ergebnisse gelten sowohl bei der Zuschreibung der Ursachen der Exklusion auf Personen wie auch auf die Exklusion herbeiführende Umstände. Obwohl es beträchtliche Unterschiede zwischen den Kulturen gibt mit Blick auf die körperlichen Kontakte in ihrer sozialen Umwelt (außerhalb der Familie), ist sich die Wissenschaft einig darüber, dass körperlicher Kontakt und leibhaftige Erfahrungsprozesse in vielerlei Hinsicht wichtig sind nicht nur zur Stärkung oder Beibehaltung von Bindung, Weltvertrauen und Emotionen, sondern auch zur Linderung von körperlichen Beschwerden und Selbstentfremdung.
Psychosoziale Beratung hat demnach Gefühle fokussierende und körperbezogene Empfehlungen, Verfahren und Methoden zu entwickeln, die selbst in Zeiten totaler Exklusion für die Nutzerinnen und Klientinnen sinnvoll erlebt werden. Beispielsweise kann es darum gehen, über körpertherapeutische Vorgehensweisen dem Nicht-mehr-sagbaren oder dem Noch-nicht-sagbaren Ausdruck zu verleihen.
Die Leitfragen wären: "Wie fühlt sich das körperlich an, das aktuelle Leben? Wie gehst Du in diesen Zeiten um mit Deinem Körper? Was vermisst Du? Wer interessiert sich noch dafür, wie es Dir körperlich geht?" Zusätzlich bieten sich etwa Gestaltansätze (aus der Gestalttherapie) an in der Form z.B. den eigenen Körper zu malen, den Körper über eigene Berührung und Massage zu entspannen und so den Körper statt als Mängelerscheinung als basale Voraussetzung und Ressource des Lebens zu fühlen. Auch geführte, musikalisch begleitete tranceinduzierende Entspannungsreisen dürften sehr nützlich sein. Hier wäre Gestaltungs-Ziel, aus einem halbleeren Glas (des negativ halbierten Körper-Bildes) ein halbvolles Glas (eines positiv halbierten Körper-Bildes) zu konstruieren.
Sensomotorisch erlebte Kommunikation lässt sich durch körperbezogene Verbal-Kommunikation und Methodik zwar nicht ersetzen. Auch reale Körperkontakte sollten uns allerdings nicht darüber täuschen, dass der "Körper" - was immer er noch sein mag - seit jeher allein ist (Fuchs 2015, 37). Verhindern lässt sich immerhin der komplette Ausschluss des Körpers als Thema von Kommunikation, d. h. seine totale Exklusion.
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* Friedrich II. von Hohenstaufen (1300) habe Kinder von schweigenden Hebammen aufziehen lassen, um die Ursprache der Menschheit zu finden. Die Kinder seien sämtlich gestorben (Salimbene, vgl. Wirth 2014, 154).